Resilienz - Eine kritische Auseinandersetzung

Resilienz - Skulptur von einem Löwen

Warum die Forderung nach mehr Resilienz unmenschlich ist

Was bedeutet Resilienz?

Schon seit längerem verfolge ich die Diskussionen und Beiträge zu dem Thema Resilienz. Der Begriff hat seinen Ursprung im lateinischen Verb "resilire". Dies bedeutet so viel wie zurückspringen oder abprallen. In der Physik bezieht er sich auf die Fähigkeit eines Materials, nach einer äußeren Verformung durch Druck und Belastung wieder in seine ursprüngliche Form zurückzukehren. Zum Beispiel zeigt ein Haufen Sand geringe Resilienz, da er in seiner neuen Form verbleibt, wenn er verformt wird. Im Gegensatz dazu ist Schaumstoff als Material deutlich resilienter. Er lässt nach, wenn der Druck nachlässt und kehr in seine ursprüngliche Form zurück.

Was bedeutet Resilienz in Bezug auf den Menschen?

In Bezug auf den Menschen bezeichnet Resilienz die Fähigkeit von Einzelpersonen oder Gemeinschaften, schwierige Lebenssituationen wie Krisen oder Katastrophen zu bewältigen. Dies soll geschehen, ohne dass sie dabei dauerhafte Beeinträchtigungen erleiden. Im Zusammenhang mit den persönlichen Belastungen bedeutet Resilienz beispielsweise, dass Menschen lernen, mit Stress und den zunehmenden Anforderungen in ihrem Alltag besser umzugehen. Sie sollen ihr Verhalten entsprechend anpassen und präventive Maßnahmen ergreifen, z. B. ihr Leben besser organisieren.

Inhumane Arbeitsplätze führen zu Belastungen

In meiner Beratungspraxis habe ich es immer wieder mit Menschen zu tun, die das Gefühl haben, diesen Forderungen nicht gerecht werden zu können. Oft ist es der Arbeitsplatz, dessen Anforderungen an die Anpassungsfähigkeit der Mitarbeiter immer mehr steigen. Arbeitskräftemangel, Arbeitsverdichtung, Digitalisierung, Komplexität und die Beschleunigung der Betriebsabläufe führen zu inhumanen Arbeitsbedingungen. Menschliche Gesichtspunkte treten dabei meist in den Hintergrund.

Die gesellschaftlichen Erwartungen überfordern uns

Parallel dazu steigen die gesellschaftlichen Erwartungen. Familien mit Kindern im Kita- oder Grundschulalter z. B. sind mehr denn je gefordert, ihren Alltag zu bewältigen. Meist müssen beide Elternteile arbeiten. Ohne ein soziales Netzwerk lässt sich das kaum noch bewältigen. Unsicherheiten und die ständige Angst, nicht mehr mitzuhalten führen zu erheblichen psychischen Belastungen. Wenn dann noch finanzielle oder gesundheitliche Probleme dazu kommen, ist eine Krise unvermeidlich.

Die Forderung nach mehr Resilienz ist nicht die Lösung

Diese, zum größten Teil durch gesellschaftliche und politische Entwicklungen entstandenen Probleme sollen dann auf der individuellen Ebene gelöst werden. Menschen, die in eine Krise geraten sind und sich davon nicht schnell genug erholen, wird mangelnde Resilienz vorgeworfen. Sie sollen lernen, ihre Emotionen zu steuern, Impulse zu kontrollieren, optimistisch denken und ihr Leben der neuen Situation anpassen. So lauten die einschlägigen Ratschläge aus der Fachliteratur. Wem das nicht gelingt, der wird schnell als Verlierer abgestempelt und muss sieht sich mit Vorwürfen konfrontiert.

Der Umgang mit außergewöhnlichen Belastungen braucht Zeit

So erging es Paul, der den Tod seiner Frau nicht überwinden konnte. Als er einige Wochen nach dem Begräbnis immer noch trauerte, wurde ihm eine Depression unterstellt. Er erhielt viele Ratschläge und die Empfehlung, sich einen Hund anzuschaffen. Dies hatte zur Folge, dass er sich immer mehr zurückzog. Erst durch Verständnis, intensive Gespräche über den Verlust und die Trauer halfen ihm, diesen Einschnitt in sein Leben zu überwinden und neuen Lebensmut zu finden.

Resilienz und Humanität gehören zusammen

Ich halte es für wichtig, über das Thema Resilienz zu sprechen. Da wo es hilfreich ist, sind Trainings zu Resilienzstärkung sicherlich ein probates Mittel. Die Forderung nach mehr Resilienz darf aber nicht dazu führen, dass die Humanität auf der Strecke bleibt. Wir müssen auch für Rahmenbedingungen sorgen, in denen die Menschen nicht ständig über ihre Möglichkeiten hinaus gefordert werden.

Neuorientierung statt Resilienz stärken

Ich lehne es ab, meine Klienten zu ermutigen, resilienter zu werden. Ich lehne auch entsprechende Trainings ab. Ich empfehle meinen Klienten meistens, erst einmal innezuhalten und sich über ihre Situation im Klaren zu werden. Eine realistische und pragmatische Bestandsaufnahme bildet die Ausgangspunkt für eine Neuorientierung. Wer die Angst zu versagen überwunden hat, findet meistens den Mut, notwendige Veränderungen auf den Weg zu bringen.